Eckhart Tolle: Der Tod und das Unvergängliche

Tod ist nicht das Gegenteil von Leben. Leben hat kein Gegenteil. Das Gegenteil von Tod ist
Geburt. Leben ist unvergänglich.
Die meisten Menschen haben einen Abwehrmechanismus gegen den Tod entwickelt. Sie
nennen es „Grausen“ und „unwichtig“.
Wenn man der Tatsache ganz bewusst und genau ins Auge blickt, dass der Körper und alles
um einen herum vergänglich ist und sich jeden Augenblick auflöst, wird die Identifikation
mit der physischen und psychischen Form, der scheinbaren Identität, aufgehoben. Sobald
man die pherimere Natur erkennt und ganz tief akzeptiert, überkommt einen ein
wunderbares Gefühl von Frieden.


Eine Kultur, die den Tod aus dem Bewusstsein zu evakuieren versucht wird unweigerlich
hohl und oberflächlich, weil sie sich nur mit den äusseren Erscheinungsformen befasst.
Wenn der Tod geleugnet wird, verliert das Leben seine Tiefe. Dann werden wir in unserem
Leben der Möglichkeit beraubt, in Erfahrung zu bringen, wer wir jenseits von Name und
Form sind, und die Dimension des Transzendenten würde ausgeklammert.
Die Menschen sind im Allgemeinen ein wenig bedrückt, wenn etwas zu Ende geht, denn
jeder Abschied ist ein kleiner Tod. Darum sagen wir beim Abschied „Auf Wiedersehen“.
Wenn man lernt, Abschiede bewusst zu akzeptieren und sogar willkommen zu heissen, wird
man merken, dass sich das Gefühl der Leere, das einem anfänglich so unangenehm war und
einem die Verdrängung bevorzugen liess, in ein Gefühl innerer Weite und Freiheit
verwandelt, das zutiefst friedvoll ist.
Die meisten Menschen haben das Empfinden, dass ihre Identität, ihr Selbstgefühl, etwas
unglaublich Kostbares sei, das man nicht verlieren dürfe. Deshalb hat man Angst und
Schrecken vor dem Tod.
Es erscheint unvorstellbar und beängstigend, dass das „Ich“ aufhören könnte zu existieren.
Dabei wird jedoch das kostbare Ich, die Seele, mit einem Namen, einer Form und der damit
verbundenen Story verwechselt. Dieses „Ich“ ist nichts weiter als eine zeitweilige Form im
Wahrnehmungsfeld des Bewusstseins.
Was ist man, wenn man alles verliert? Was bleibt von dem Ich übrig? Es ist ein Loch im
Gewebe der scheinbaren Existenz.
Wenn es nur eine einzige Farbe gäbe, zum Beispiel blau, und die ganze Welt, samt allem,
was darin ist, wäre blau, dann gäbe es kein blau. Es müsste noch etwas da sein, das nicht
blau ist, damit das Blau erkannt werden könnte – sonst würde es nicht wahrgenommen
werden.
Muss nicht auch etwas da sein, das nicht flüchtig und vergänglich ist, damit die
Vergänglichkeit aller Dinge eingesehen werden kann?
Wenn alles, einschliesslich meiner selbst, vergänglich wäre, wie könnte ich dies wissen?
Bedeutet nicht die Tatsache, dass man die Kurzlebigkeit aller Erscheinungsformen
einschliesslich seiner eigenen beobachten und bewusst miterleben kann, dass es etwas in
einem gibt, das nicht dem Zerfall ausgesetzt ist?
Das ist die ewige Seele.

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